Der Zauberberg, 1924
„Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längeren Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint. Denn Station Landquart liegt vergleichsweise noch in mäßiger Höhe; jetzt aber geht es auf wilder, drangvoller Felsenstraße allen Ernstes ins Hochgebirge. […] Zwei Reisetage entfernen den Menschen – und gar den jungen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. […] Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsächlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. […] Er wünschte, am Ziel zu sein, denn einmal oben, dachte er, würde man leben wie überall und nicht so wie jetzt im Klimmen daran erinnert sein, in welchen unangemessenen Sphären man sich befand. Er sah hinaus: der Zug wand sich gebogen auf schmalem Paß; man sah die vorderen Wagen, sah die Maschine, die in ihrer Mühe braune, grüne und schwarze Rauchmassen ausstieß, die verflatterten. Wasser rauschten in die Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblöcken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe sich auf. Sie schlossen sich, neue Engpässe folgten, mit Schneeresten in ihren Schründen und Spalten. Es gab Aufenthalte an armseligen Bahnhofshäuschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verließ, was verwirrend wirkte, da man nicht mehr wusste, wie man fuhr, und dich der Himmelsgegenden nicht länger entsann. Großartige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan- und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, daß er die Zone der Laubwälder unter sich gelassen habe, auch die der Singvögel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, daß er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Übelbefinden, für zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. Das ging vorüber. Er sah, daß der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Paßhöhe überwunden war. Auf ebener Talsohle rollte der Zug nun bequem dahin. [...] Man hielt an einer kleinen Station, es war Davos-Dorf“
Thomas Mann: Der Zauberberg (1924)
Fluchtlinien der Moderne
Gebirgsbahnen wurden von Landschaften geprägt und haben prägenden Einfluss auf die durchfahrenen Landschaften. Sie wurden von Menschen geplant und errichtet und haben der Menschen Wahrnehmung und Befinden geprägt. Sie verkörpern zugleich technische Machbarkeitseuphorie und harmonische Wahrnehmung von Technik und Natur. Sie zogen Verkehr an und wurden wegen diesem stetigen Verkehrsanstieg ständig an den verändernden Bedarf angepasst. Und sie sind weitestgehend Zeugnisse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Nur noch wenige wurden im 20. Jahrhundert nach 1914 errichtet – wenn, dann außerhalb von Europa. Dem Wunsch nach schnellen und problemlosen Verkehrsverbindungen entsprechend werden Gebirge heutzutage nicht mehr über-wunden, sondern als ‚Flachbahn’ unter-tunnelt. Damit hat die Eisenbahn zu jenem Bauprinzip zurückgefunden, welches schon seit 1841 das Tunnelportal von Österreichs erstem Eisenbahntunnel ziert: RECTA SEQUI, was nichts anderes bedeutet als »der Geraden folgen«(1).
Gebirgsbahnen faszinieren bis heute. Die erste Eisenbahnlinie, welche in die UNESCO-Welterbeliste eingetragen wurde, war eine Gebirgsbahn: Im Jahr 1998 erfolgte die Aufnahme der Semmeringbahn in Österreich als erste Eisenbahn der Welt in das schützenswerte Kulturgut der UNESCO. Bis zum Frühjahr 2008 wurde nur noch eine weitere Eisenbahn als Welterbestätte aufgenommen: Die Welterbestätte Mountain Railways of India (Bergbahnen in Indien) besteht aus der Darjeeling Himalayan Railway (DHR, Eintrag 1999) sowie der Nilgiri Mountain Railway (NMR, Eintrag 2005). Im Sommer 2008 wurde die Aufnahme der Rhätischen Bahn in der Kulturlandschaft Albula/Bernina (Schweiz) entschieden und bei der durch die schweizerischen Kantone Uri und Tessin verlaufenden Gotthardbahn wurde zeitgleich die Möglichkeit einer Einreichung bei der UNESCO erörtert. Auch in den französischen Pyrenäen erfolgen Überlegungen hinsichtlich einer Einreichung einer Gebirgsbahn als UNESCO-Welterbestätte. In der ICOMOS-Studie(2) zu Eisenbahnen als Welterbestätten finden sich die spezifischen Kriterien für deren Eintragung als Welterbe. Darin werden exemplarisch auch Eisenbahnen in aller Welt angeführt, um die Idee des Welterbes im Fall von Eisenbahnstrecken zu veranschaulichen. Unter den acht darin ausgewählten Strecken sind eine Untergrundbahn, zwei der ersten Überland-Eisenbahnen aus dem frühen 19. Jahrhundert sowie die erste Hochgeschwindigkeitseisenbahn der Welt. Die andere Hälfte der angeführten Eisenbahnen sind aber in und durch Gebirge führende Bahnen.(3)
Was macht Gebirgsbahnen aber derart interessant? – damals wie heute, und auch in Zukunft?
Just in den goldenen Jahren der Eisenbahn lässt Thomas Mann seinen Protagonisten auf den ‚Zauberberg‘ nach Davos in den schweizerischen Alpen fahren, um dessen Vetter in einem Tuberkulose-Sanatorium zu besuchen. Der für drei Wochen geplante Aufenthalt verlängert sich auf sieben Jahre und die Menschen im Sanatorium konfrontieren den auf dem ‚Zauberberg’ hängen gebliebenen Reisenden mit Politik, Philosophie, aber auch mit Liebe, Krankheit und Tod. Die Beschreibung der Zugfahrt bei der Anreise ist eine verdichtete Beschreibung dessen, was – verallgemeinert gesprochen – die Faszination von Gebirgsbahnen ausmacht: sie sind abenteuerlich und sie werden von einer Vielfalt sowie Vielzahl an unterschiedlichen Blicken begleitet; sie führen weg von Heimat und Ordnung in höhere Regionen und Sphären. Sie führen gewissermaßen zu Fluchtpunkten der Moderne. Gebirgsbahnen machen vieles von jenem erfahrbar, was die Moderne darstellt. Moderne und Modernität, modern und modernisieren sind Begriffe, die seit dem 19. Jahrhundert zunächst in Philosophie, Kunstgeschichte oder Literatur thematisiert wurden – und werden, wenn man an die Diskussionen um die Post-Moderne denkt. ‚Moderne‘ gilt als die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Spiegel der Gegenwart – und umgekehrt. Sie ist genau genommen die Bewusstwerdung der Historizität mit dessen dialektischer Struktur: ‚Modern’ wird das Selbstverständnis der jeweiligen Zeit gesetzt, um sich nicht im Kleinen, sondern epochal gegen ihre Vergangenheit abzusetzen. So wird ‚Modern’ flüchtig vor sich selbst – was einmal als solches galt, ist tags darauf schon von einem Neueren abgesetzt. Moderne ist aber vielschichtiger und berührt mehr: auch war die Moderne von einer Ästhetisierung der Lebenswelt gekennzeichnet. Künstlerische Elemente in Form von Design, Mode oder Medien gewannen an Bedeutung für den Lebensalltag und die sich stetig verändernden technischen Rahmenbedingungen ermöglichten eine Erweiterung der Wahrnehmung. Transportmittel wie die Eisenbahn waren und sind nicht unbeeinflusst von dieser Entwicklung. Eisenbahnen sind mehr als nur Transportmittel: sowohl Bauwerke als auch Fahrzeuge wurden und werden in bestimmten Design gestaltet und bekommen eine bestimmte Bedeutung zugesprochen; man denke dabei nur an die Gebirgslokomotive des frühen 20. Jahrhunders, das ‚Krokodil‘, Und die Eisenbahnreise selbst ermöglichte mit einem ‚panoramatischen’(4) Reiseerlebnis eine neue Erfahrung des Raumes. Derartige Schlüsselbegriffe wie Raum oder Historizität zielen auf jene imaginativen Fluchtpunkte, die im Zeitalter der Moderne Diskussionen und Auseinandersetzungen in Kunst, Literatur oder Philosophie anregten. Auch im Alltäglichen gerinnen sie zu idealisierten und existentialistischen Vorstellungen vom modernen Leben, wie eine Tageszeitung die Inbetriebnahme der Semmeringbahn euphorisch notierte:
»Es gibt jetzt keinen Berg, über den man nicht eine Eisenbahn führen, keinen Fluß mehr, über den man nicht eine Brücke schlagen könnte.« (5)
Dieser Wendepunkt in der Erschließung des gebirgigen Raumes datiert im Jahr 1854. Erstmals gelang es, ein gesamtes Gebirge mit ausschließlichem Lokomotivbetrieb zu überqueren. Die Semmeringbahn hatte weltweite Vorbildwirkung und bildete den Prototyp für die Erschließung von Gebirgen in der ganzen Welt.(6) Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte weltweit der Bau von Gebirgsbahnen. Und die Entwicklung dauert – wenn auch in einem weit geringeren Ausmaß – bis heute an: vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung bildet die am 1. Juli 2006 eröffnete Tibetbahn, welche in einer Länge von etwa 1.150 km von Golmud in die tibetische Hauptstadt Lhasa führt. Dabei wird der weltweit höchste mit einer Eisenbahn erreichbare Punkt erreicht - 5.072 m über dem Meeresniveau. Wie schon bei den zahllosen anderen Gebirgsbahnen in aller Welt werden von nun an auch hier die Regionen entlang des Eisenbahnkorridors vermehrt erschlossen – deren land- und forstwirtschaftliche Produkte ebenso wie deren Bodenschätze. Damit einhergehend findet eine Veränderung des sozialen und kulturellen Gefüges der Menschen statt. Und so wird auch die Tibetbahn – gewollte und ungewollte – Veränderungen mit sich bringen.(7)
In (bau-)technischer Hinsicht sind damit der Ausgangs- und der vorläufige Endpunkt der Gebirgsbahnentwicklung markiert. Wie schon angedeutet sind Gebirgsbahnen jedoch mehr als Bautechnik: sie ermöglichen ein »Ballett der Blicke«(8) und lernen den Reisenden, ‚Gegenden‘ als ‚Landschaften‘ ästhetisch wahrzunehmen; sie können Reisende durch ihre verschlungene Streckenführung verwirren und erst »Sichtstützen«(9) wie Reiseführer oder markante Bauwerke ermöglichen wieder Orientierung; Gebirgsbahnen führen Menschen zu Orten des Fernwehs und der Sehnsucht, sei es die kühle Luft der Hochgebirge oder die fernen, nicht selten zauberhaften und sagenumwobenen Länder jenseits der Gebirge. All das sind Fluchtpunkte, die im Zeitalter der Moderne von Menschen geprägt wurden und rückwirkend prägenden Einfluss auf die Menschen hatten. Die Gebirgsbahnen selbst werden so zu Fluchtlinien der Moderne. Fluchtlinien sind wie lineare ‚Orte‘ zu sehen, sie sind die Grundlage für die Bewegung, für den Transport: der Streckenverlauf bildet einen Ort der linearen Wahrnehmung; Orte der Verbindung sind alle die Brücken, ohne die es keine Gebirgsbahn gäbe; die Tunnel sind jene Orte, in denen Durchbrüche stattfanden; und als mobile Kraftorte bringen die Lokomotiven die Bewegung auf die Gebirgsbahnen. All dies zusammen sind Bestandteile des linienhaften ‚Systems Eisenbahn‘. All dies sind gleichzeitig auch jene Bestandteile, welche im Kern die Faszination gegenüber den Gebirgsbahnen ausmacht. Gebirgsbahnen weisen aber eine noch weitere Dimension an Komplexität auf: durch das Prädikat des Denkmalschutzes und des UNESCO-Welterbes sind sie auch Orte des Erinnerns. Deshalb finden parallel zur Wanderausstellung Forschungen statt, welche kulturwissenschaftlich all diesen Phänomen von ‚Gebirgsbahnen‘ nachspüren – und noch weitere aufdecken. Zu gegebenen Zeitpunkt werden die Ergebnisse im SÜDBAHN-Museum vorgestellt. Wir halten Sie am laufenden! Seien aber auch Sie herzlich eingeladen, uns Ihre Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen zu ‚Gebirgsbahnen‘ mitzuteilen! (10)
Günter Dinhobl
Sonderausstellung und Publikation
2008 konzipierte das SÜDBAHN Museum unter der Leitung von Dr. Günter Dinhobl eine Sonderausstellung zu diesem spannenden Thema. Die Ausstellung wurde als Wanderausstellung angelegt und wird mittlerweile in München gezeigt. Parallel dazu erschien auch eine Publikation unter diesem Titel, welche in unserem Shop erhältlich ist.
Quellenverzeichnis:
(1) Hermann Möcker: Züge (wie) auf dem Schachbrett, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 42. Jg. 1999, Doppelheft 5-6, S. 319-392, hier S. 322.
(2) Die ICOMOS (International Council on Monuments and Sites) berät die UNESCO betreffend allen Angelegenheiten des Kulturerbes; http://www.icomos.org.
(3) Anthony Coulls, International Council on Monuments and Sites (ICOMOS): Railways as World Heritage Sites; Paris 1999.
(4) Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert; Frankfurt am Main 1989.
(5) Triestiner „Lloyd“ vom 2. Juli 1854, zitiert nach Zitiert nach Wolfgang Kos (Hg.): Die Eroberung der Landschaft Semmering•Rax•Schneeberg; Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Gloggnitz 1992, Wien 1992, S.206
(6) Vgl. Günter Dinhobl: Die Semmeringerbahn. Der Bau der ersten Hochgebirgseisenbahn der Welt (Reihe Österreich-Archiv); Wien: R. Oldenbourg Verlag / Verlag für Geschichte und Politik, 2003, S. 135ff.; zur Erschließung der Welt unter Zuhilfenahme von Technologie vgl. Daniel R. Headrick: The Tools of Empire. Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century; New York, Oxford 1981; Daniel R. Headrick: Tentakles of Progress; New York, Oxford 1988.
(7) Zu den gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Eröffnung der Tibetbahn vgl. staatliche Meldungen URL: http://english.gov.cn/special/2006-05/01/content_308464.htm (7.6.2008) oder allgemein: URL: http://english.gov.cn/special/qztl_index.htm (7.6.2008); vgl. insbesondere auch nichtstaatliche Berichte, URL: http://www.savetibet.org/news/newsitem.php?id=997 (7.6.2008), URL: http://savetibet.org/documents/pdfs/2003RailwayReport.pdf (7.6.2008).
(8) Wolfgang Kos (Hg.): Die Eroberung der Landschaft Semmering•Rax•Schneeberg; Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung im Schloss Gloggnitz 1992, Wien 1992, S.230.
(9) Daniel Speich: Links und Rechts der Eisenbahn. Zur visuellen Standardisierung der touristischen Eisenbahnfahrt; in: Monika Burri, Kilian T. Elsasser, David Gugerli (Hg.): Die Internationalität der Eisenbahn 1850-1970 (Interferenzen 7. Studien zur Kulturgeschichte der Technik); Zürich: Chronos, 2003, S.91-109, hier S. 101.
(10) SÜDBAHN Museum Mürzzuschlag am Semmering, Kennwort: ‚Gebirgsbahnen‘, Heizhausgasse 2, 8680 Mürzzuschlag, Österreich,