Die Vernichtung von Raum und zeit
„Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind.“
Paul Valéry (franz. Philosoph, gest. 1945)
Wir Menschen des Industriezeitalters sind getrieben von der Zeit. Wir feiern unsere runden Geburtstage als ob sie ein Sieg wären. Ein Sieg gegen die Zeit. Wir begehen Jubiläen und Gedenkjahre und sind beeindruckt von der Zeit. Jedoch uns fehlt die Zeit - Zeit mit lieben Menschen zu verbringen, unseren Hobbies nachzugehen...
... und es bleibt nur noch die Zeit übrig ...
Die Wahrnehmung von Zeit und die direkte Verknüpfung mit dem Raum ist ein Phänomen, welches mit Erfindung des Systems Eisenbahn revolutioniert wurde.
Die Durchschnittsgeschwindigkeit der frühen Eisenbahn betrug 20 Meilen (32km) bis 30 Meilen (48km) pro Stunde. Das war das Dreifache der erreichten Geschwindigkeit einer Postkutsche.
Die gleiche Strecke wurde somit um ein Drittel der gewohnten Zeit zurückgelegt und damit sozusagen um ein Drittel verkleinert. In Texten wurde das als Schrumpfung des Raumes dargestellt.
„…unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Die Eisenbahn ist ein providentielles Ereignis, nach Schießpulver und Druckerkunst, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig…“
Heinrich Heine, 1843
Im Flug durch die Welt
„Reisende sind menschliche Pakete, die sich per Eisenbahn selber an ihren Bestimmungsort schicken.“
John Ruskin (britischer Schriftsteller, Maler, Kunsthistoriker und Sozialphilosoph)
John Ruskin schreibt weiter … „Es ist gleichgültig, ob sie Augen im Kopf haben oder blind sind oder schlafen…“ Der Wirklichkeitsverlust der Wahrnehmung entsteht dadurch, dass nicht mehr wie die Kutsche und die Straße in den Landschaftsraum eingebunden sind, sondern die Eisenbahn diesen durchschlägt. Der Zwischenraum oder Reiseraum wird vernichtet. Die Eisenbahn kennt nur mehr Start und Ziel. Entfernte Landschaften werden zu Vororten der Städte und der Bahnhof zum Eingangsvestibül. Die Reise in eine mit der Eisenbahn erreichbare Gegend erscheint als nichts anderes denn der Besuch eines Theaters. Der Kauf eines Eisenbahnbillets bedeutet dasselbe wie der Erwerb einer Theaterkarte. Die Landschaft, die man mit dem Billett erwirbt, wird zur Vorstellung.
Die Eisenbahn wurde mit einem Projektil verglichen und die Reise an sich als Geschossen werden durch die Landschaft erlebt. George Stephenson, englischer Ingenieur und Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, bezeugte die eingeschränkte Sehfähigkeit in einem parlamentarischen Hearing 1841: „Wenn der Lokführer seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand richtet, bevor er ihn erreicht hat, so erkennt er ihn wohl ziemlich genau; wenn er sich jedoch im vorüberfahren nach ihm umwendet, wird er ihn kaum wahrnehmen können.“ In allen frühen Beschreibungen von Bahnreisen ist diese Schwierigkeit Gegenstände, Landschaften zu erkennen die Rede. So wird allgemein die Empfehlung ausgegeben in die Ferne zu blicken. Wer das nicht tut muss mit Ermüdung rechnen. Durch die Geschwindigkeit wird eine erhöhte Anzahl von Eindrucken hervorgerufen. Das Phänomen der „Steigerung des Nervenlebens“ wurde kreiert. Die Unfähigkeit, eine dem technischen Fortschritt adäquate Sehweise zu entwickeln erstreckt sich, unabhängig auf politische, ideologische oder soziokulturelle Hintergründe, auf die verschiedensten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts.
Das panoramatische Reisen
„Wer ein gutes Auge hat … , gewöhne sich gleich daran, alles was sich ihm während der Fahrt darbietet, aus einiger Entfernung zu beobachten, und es wird ihm selbst während der Stage der allergrößten Schnelligkeit, bei einiger Beobachtungsgabe, nicht das Geringste verloren gehen.“
(Georg Muhl)
Im Laufe der Jahre bröckelt das negative Bild der Eisenbahn. Es entwickelt sich eine Gegenströmung, wo die Effekte der neuen Reisetechnik ganz in sich aufgenommen werden. Die Geschwindigkeit und Geradlinigkeit der Eisenbahn bringt die Landschaft erst zur Entfaltung. Die Eisenbahn inszeniert somit eine neue Landschaft. Die Szenerie, die die Eisenbahn in schneller Bewegung herstellt zeigt sich als Panorama. Drei Elemente des panoramatischen Blickes aus dem Waggonfenster: Die schnelle Aufeinanderfolge von Bildern und Überraschungen; es zeigt sich lediglich das Wesentliche einer Landschaft; und durch die Flüchtigkeit wird das Ganze erfasst, somit ein Überblick gegeben.
Damit einhergehend die gezielte Wahrnehmung der Landschaft. Die Eisenbahn bricht den abgegrenzten Raum auf – die Gegend wird er-fahrbar gemacht. Die Landschaft erschließt sich während der Fahrt aus dem Fenster – in sicherer Distanz – panoramatisch.